Amin El Dib – Jacques
Mehr als ein Blick
„Jacques“, eine Installation von Amin El Dib
Amin El Dib bespielt die 11m2 mit einer fast den gesamten Wand- und Fensterraum erfassenden Installation, die in ihrer Gestaltung auf nur ein einziges Bildmotiv zurückgreift.
In einem quadratischen Format erscheint – in einer Schwarz-Weiß-Photographie – das Gesicht eines älteren Mannes, der lächelnd direkt in die Kamera blickt. Diese scheint ihm bedenklich nahe zu rücken so dass jede Falte, jeder Bartstoppel im Fokus erscheint. Die zwangsläufige Distanzlosigkeit wird durch den Bildausschnitt verstärkt, der kompromisslos Augen und Mundpartie in Szene setzt. Am rechten und linken Bildrand werden zwar Konturen des Kopfes sichtbar, in der kontrastreichen Lichtregie kommt diesen Details jedoch eine rein rahmende Funktion zu, als Licht- und Schattenkontrast. Der Bildausschnitt wirkt wie ein Zoom, eine technisch mögliche Nahaufnahme, die einen Blick auf das Gesicht eröffnet, der sich dem Gebot menschlichen Individualabstandes folgend in der Alltagswahrnehmung als unschickliche Nähe verbieten würde. Diese ungewöhnliche Nähe jedoch schafft im Gegenzug eine erstaunliche Distanz zu dem Abgebildeten als wahrzunehmender Person und rückt den von der Kamera eingefangenen, vom Bildausschnitt hervorgehobenen Gesichtsausdruck in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Im Zusammenspiel von Mund, Augen und Gesichtsmuskulatur ergibt sich ein Ausdruck, der in einem ersten Schritt als ein freundliches, mildes Lächeln deutbar scheint. Bei längerem Hinsehen jedoch wird man im Ausdruck der Augen eines Anfluges von Traurigkeit gewahr, der das Lächeln aus der Freundlichkeit in eine unerwartete Schmerzhaftigkeit entgleiten lässt. Beide, so scheinbar widersprüchlichen Eindrücke vermittelt die Photographie dauerhaft.
Bei diesem Bild mit einer Detaildarstellung eines männlichen Gesichtes scheint es sich um ein Porträt zu handeln. Eine solche Vermutung liegt auch schon deshalb nahe, da der Titel auf einen Eigennamen und damit mutmaßlich auf eine Identifizierbarkeit des Dargestellten weist. Das Bild eines Kopfes oder einer Person ist meist dann mehr als das Bild, das einen Kopf oder Körper bzw. die Gestalt eines Menschen zum Gegenstand hat, wenn „die Individualität des Porträtierten zur Darstellung“i kommt. Es sollten die „Einheit der geistigen Individualität ausgeprägt und der geistige Charakter das Überwiegende und Hervortretende” sein. Dies empfiehlt eine Konzentration auf die Züge und Partien, „in welchen diese geistige Eigentümlichkeit sich in der Klarsten und prägnantesten Lebendigkeit ausspricht.“ii Dies scheint für die der Installation zugrunde liegende Photographie erst einmal uneingeschränkt zu gelten. Der Umgang mit diesem Bild jedoch zieht solche vermeintliche Eindeutigkeit wieder in Zweifel.
Stattdessen lässt sich vielmehr die weitaus spannendere Frage stellen, ob der Abgebildete auch tatsächlich als der Dargestellte im Vordergrund steht, oder ob er nicht allein als Bildanlass erscheint, während als der eigentliche Bildgegenstand die Ambiguität seines mimischen Ausdrucks in den Fokus rückt.
Amin El Dib zeigt „Jacques“ als ein auf transparenter Folie gedrucktes „Dia“ im Fenster und als ein in serieller Wiederholung zum Muster umfunktioniertes Grundmotiv einer Phototapete an drei der vier Wände des Ausstellungsraumes.
Das Hochformat des Fensters wird von einem weißen Rahmen geschlossen, der das Quadrat des transparenten Bildes umschließt. das sich wandelnde Licht und damit auch sichtbare Elemente des Außenraumes verändern das Erscheinungsbild der Photographie beständig. in seiner in Teilen gegebenen Transparenz wird es zum „offenen Kunstwerk“, dass, indem es Licht und Raum in sich aufnimmt, selbst als Standbild eine gewisse filmische Qualität erlangt.
Als Tapete mit einem allein auf einer Photographie beruhenden Motiv bildet sich eine Musterstruktur, über die sich in steter Wiederholung aneinanderreihenden quadratischen Bildformen. Dazu kommen die, das Gesicht rahmenden Licht- und Schattenflächen, sowie die, sich in einer Art abstrakten Konstellation auflösenden Stellung von Augen und Mundpartie. In der Unzahl der Wiederholungen wird damit schließlich ein ornamental strukturiertes Kachelmuster sichtbar, innerhalb dessen, der porträthafte Charakter der Gesichtsdarstellung, zunächst einmal zurücktritt.
Kunsthistorisch haben Porträts oder porträthafte Abbildungen in innerbildlichen Wiederholungen und in Serien im Werk von Andy Warhol ein wichtiges Vorbild. In dessen Werk jedoch hat neben den Bildmotiven die bildnerische Sprache des Künstlers, über die Eigendynamik von Schraffuren etwa und die Eigenständigkeit von Farbflächen, eine große Präsenz. El Dibs photographische Tapete hingegen bleibt, abgesehen vom Moment der Wiederholung, gänzlich bei der Gestaltung der ursprünglichen Photographie. Das wiederum hat Konsequenzen in der Wahrnehmung des Motivs als Muster. Dieses lässt sich zwar mit wenigen Blicken erfassen und doch tritt damit in der Anschauung keinerlei Beruhigung ein. Die Präsenz des photographischen Gesichtsbildes forciert eine genauere Betrachtung des verstandesmäßig als Muster längst Durchschauten. Das Auge forscht zunächst einmal einigermaßen rastlos auf der Suche nach möglichen Veränderungen, nach etwaigen minutiösen Variationen des Ausdrucks. Es folgt damit einer naheliegenden Erwartung oder Hoffnung auf ein quasi filmisches Ereignis, das in langen Einstellungen eine Unzahl von Bildern nicht in Bewegung, sondern in additiver Dauerpräsenz zeigen könnte. Und doch bleibt jegliche Hoffnung auf Veränderung und Variation enttäuscht. Zu sehen ist immer nur das immer gleiche Bild.
Damit sieht sich der Betrachter einem direkten bildlichen Blick ausgesetzt, der sich in unüberschaubarer Unzahl wiederholt. Ursprünglich, so lässt sich dies rational erschließen, ist es ein Blick, gerichtet auf die Linse einer Kamera, in einer nicht näher bestimmten zurückliegenden Zeit, an einem nicht näher bestimmten anderen Ort. Es handelt sich um ein auf Papier ausgedrucktes, Bild gewordenes vergangenes Ereignis. Und dennoch kann der Betrachter nicht umhin, diesen Blick als einen, im Moment seiner Betrachtung, auf sich als Person gerichteten wahrzunehmen. Jean-Paul Satre hat auf eindrückliche Weise die Scham beschrieben, die dem „Vom-Anderen-gesehen-werden“ folgt, unmittelbar bevor das eigene Universum im Abflussloch mitten im Sein des Anderen verrint.iii
In der eigenen Wahrnehmung bleibt sich ein jeder so das Zentrum des Geschehens und in dieser Installation sind es die vielen Augen, die auf dieses eine Zentrum ausgerichtet sind.. Das eigenwillige dieser Erfahrung bleibt, dass noch die Augen längs der Wand, aus der Tiefe des Raumes ihre gleichzeitige Gerichtetheit demonstrieren. Es stellt sich ein Gefühl der Unbeherrschbarkeit und Desorientierung ein und so schafft diese Tapete in Bezug auf die Wahrnehmung des Blicks eine nachhaltige Überforderung.
Über das Erlebnis existentialistischer Blickerfahrungsdramen hinaus eröffnet die Installation zudem eine Perspektive auf ein weiteres, interessantes photographisches Phänomen. In der schier endlosen Wiederholung wird das ursprünglich Singuläre des photographischen Porträts aufgehoben und in eine unendlich fortsetztbare Musterstruktur überführt. Eigentlich bedeutet dies eine Abwertung des Bildes zum Muster. In der Wahrnehmung des Raumes jedoch ist zu beobachten, wie sich ausgerechnet in dieser Struktur eine Steigerung der Ausdrucksstärke des eigentlichen Bildgegenstandes erreichen lässt. Denn, nimmt man Abstand und konzentriert sich auf die Addition der je einzelnen Gesichtsabbildung und folgt ihnen mit der Distanznahme des Betrachters, nicht der des Betrachteten, dann erlebt man eine maßlose Steigerung der Ambiguität im Ausdrucks des Dargestellten.
Amin El Dib gestaltet mit seiner Installation „Jacques“ in den 11m2, mit einfachen Mitteln, einen Raum als physisch erlebbare Herausforderung an die Wahrnehmung eines einzigen photographischen Bildes.
Rafael von Uslar
i Hans Georg Gadamer: Die Okkasionalität des Porträts. In: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, S. 149ff.
ii Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. In: Band 3, Werke 15, Frankfurt am Main 1990, S. 102.
iii Jean-Paul Satre: Der Blick, in: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Onthologie, Hrsg. von Traugott König, Hamburg, 2009, S. 457ff.