Category: Exhibitions

Dirk Schlichting – Berliner Spalt

DSC_0350

Der Berliner Spalt

Das Bodenlose der Kunst des Dirk Schlichting

Tut sich die Erde auf, ist dies meist das Resultat eines gravierenden Ereignisses.
Entweder bleibt es biblisch und es bebt bevor Vorhänge zerreißen oder der Planet entäußert sich eruptiv, tektonische Platten verschieben sich. Dies sind insgesamt
gesehen erdhistorische Ausnahmesituationen. Gemeinhin kann sich Mensch auf die
Unversehrtheit und unhinterfragte Kontinuität der Erdoberfläche verlassen, auf der er
zu seiner Lebenszeit wandelt. Eine Kruste und die Brüchigkeit derselben sind dem
Menschen zwar als positive Leiberfahrung in Form eines Heilungsprozesses
durchaus bewusst. Und doch geht der Mensch davon aus, dass die Erde unter
seinen Füssen ihn tragen wird, in einem komplizierten Wechselspiel von
Anziehungskraft, Anstieg und Gefälle.
DSC_0334
.
Im domestizierten Raum steht der Boden anstelle der Erde. Der Boden ist eine
künstlich geschaffene Oberfläche, zumeist parallel zur Erde angelegt. Sie eleviert die
Erdoberfläche mit sämtlichen Regeln und Naturgesetzen in beliebige Höhen. Alles
andere ist eine Frage von Statik und Architektur.
Die größte Furcht jedoch desjenigen der sich auf den Boden unter seinen Füssen
verlässt, ist das Bodenlose. Das Bodenlose ist ein Raum, der eine erstaunliche,
mutmaßlich unendliche Ausdehnung irgendwo zwischen Boden und Erde erreicht.
Das Erdinnere, jenseits der Kruste lässt sich geologisch denken und über
Unterkellerung und U-Bahnschächte leiblich erschließen. Ein Erdkilometer von
Walter de Maria bietet eine metallgewordene Linie an der entlang sich in den
Untergrund denken lässt. So wird deutlich: Die Erde und ihr Inneres sind endlich.
Das Bodenlose hingegen projiziert die Unendlichkeit des die Erde umgebenden All in
den Untergrund. Somit ist das Bodenlose ein Raum, der die Erde nicht von ihrer
Kruste aus denkt, sondern als einen eigenen Raum von unermesslicher Ausdehnung
begreift. Es wohnt dem Bodenlosen das Bewusstsein inne einen Ausgangspunkt,
den Boden, zu kennen und kein Ende in der Ausdehnung dieses Abgrundes zu
finden, der sich jenseits des Bodens auftut. Das widerspricht der Logik alles Wissens
um Welt und Erde. Es ist daher ein fiktiver, ein imaginierter, ein erwünschter Raum.
Tut sich die Erde auf, ist dies meist ein gewaltsames Ereignis, das Spuren dieser
Gewalten hinterlässt. Es geht dabei um Risse, Verwerfungen und Irregularitäten. Das
Bodenlose als fiktiver Raum ist solchen Naturgesetzlichkeiten und ihrer ästhetischen
Begleiterscheinungen nicht unterworfen. Und so kommt schließlich auch der Berliner
Spalt des Dirk Schlichting ohne jede visuell ästhetische Dramatisierung des
Aufbrechens, Aufreißens, des Eruptiven aus. Alles ist gebaut und mit einem
Höchstmaß an handwerklicher und ästhetischer Präzision an die vorgefundenen
architektonischen Gegebenheiten angepasst.
Der Berliner Spalt ist ein Raum, in dem sich der Boden auftut. Ganz ordentlich, sehr
geregelt. Man steigt eine Treppe empor, betritt einen Boden, ein Teppichläufer gibt
die Laufrichtung vor. Alles strebt einem Fenster zu, dass sich auf Bodenniveau
befindet. Geöffnet würde es sich als die Handlungsanleitung zu einem Berliner
Fenstersturz anempfehlen. Dass der Läufer auf das Fenster als einzigem Ziel und
räumlichem Ausweg zuführt ist jedoch ein inszenatorisches Ablenkungsmanöver. Der
wahre Zweck des Teppichs ist es durchzuhängen. Und das genau da, wo sich mitten
im Raum der Boden auftut. Ein kleiner, tiefergelegter Kronleuchter markiert die Stelle
in Gegenrichtung, stuckgefasst von der Decke aus.
DSC_0364
.
Blickt man in den akkurat gefassten Spalt, so blickt man in eine von Berliner Glätte
und schwarzem Pigment geformten Kehle. Erkennt man diesen Abgrund mit den
eigenen Augen zwar als endlich, so begreift man ihn doch in Hinblick auf seine
Lokalisierung im Boden als un-endlich. Schließlich stellt der, die Sicherheit seiner
Kontinuität verweigernde Boden, eine allzu große Herausforderung dar, angetan
jegliche Evidenz des Augenscheins zu überstimmen. Verstärkt wird dieser Aspekt
dadurch, dass der Berliner Spalt eben keine akzidentielle Erscheinung irgendeines
unabwendbaren Naturereignisses oder Unfalls darstellt, sondern offensichtlich und
mit ebenso großem Aufwand, wie augenscheinlicher Detailverliebtheit bewusst und
willentlich herbeigeführt wurde. Dieser Abgrund ist erdacht, gebaut, geformt und zum
visuellen und körperlichen Erleben freigegeben. Er regt an, die Vorstellung des
Bodenlosen als geistige Erfahrung zu erkunden. Dies kann ein Angstraum sein, oder
aber ein Raum unbegrenzter Phantasie und Kreativität. Der Berliner Spalt eröffnet
einen imaginären Ort, dessen Dimensionen und Gestalt gänzlich dem
Vorstellungsvermögen seiner BetrachterInnen unterliegen.
Darüber hinaus dient der Berliner Spalt aber auch ganz praktisch als Falle. Absturz
droht: Es besteht erhebliche Verletzungsgefahr! Das Betreten des Raumes ist
nicht sicher und erfolgt auf eigene Gefahr. 11m2 warnt somit ausdrücklich vor einem
Betreten dieses Raumes und lehnt jede Verantwortung für etwaige Folgeschäden
kategorisch ab. Mögliche zukünftige Regressforderungen werden umgehend dem
Bodenlosen überantwortet.
.
Rafael  von Uslar

 

 

Bilder der Eröffnung von Margret Kampmeyer:

 

Advertisement

Troy-Anthony Baylis – Schutzmantelmadonnamimi

Please scroll down for english version

Troy-Anthony Baylis:

Schutzmantelmadonnamimi

Nach der Deutschlandpremiere seiner Mimis in der Ausstellung: We’re Justified And We’re Ancient in den 11m2, 2016, zeigt Troy-Anthony Baylis exklusiv, als Weltpremiere, die dritte Materialisierung eines Mimi in Berlin!

Schutzmantelmadonnamimi ist ein Pop-up Projekt für 11m2, bei dem es im Rahmen einer Konfrontation zweier höchst unterschiedlicher Instanzen um Selbstbehauptung und das Inanspruchnehmen, ein „Claiming“ von Identitäten geht.

Die Installation in den 11m2 gleicht einer Versuchsanordnung. Auf der Bühne erhebt sich Schutzmantelmadonnamimi mit ausgestreckten „Armen“ über einer gestrickten und bestickten „Dilly“ Skulptur, die sich unter einer Glashaube geschützt auf einem Sockel erhebt. Hinter dieser sehr speziellen Begegnung zweier gestrickter Objekte, wird die Rückwand des Raumes von einer Photographie dominiert. Das Bild zeigt den Künstler strickend vor der Berliner Siegessäule stehend. Optisch scheint die Säule in der in Herstellung befindlichen Mimi Skulptur ihre Verlängerung zu finden. Schlaff, als reine Strickware ohne ein eigenes Innenleben scheint das Mimi den Körper des Künstlers als Stütze zu nutzen um nach der Säule zu greifen. Im optischen Umkehrschluss jedoch scheint die Siegessäule über ihren Sockel hinweg auf Albert Speers Treppen in bunten Farben auszubluten.

troy anthony bailey 41, 2019

Mimi

Mimis sind vor-kreatürliche Geister die ihr Vorkommen in verschiedenen Kulturen der Aborigines im Norden des Australischen Kontinents haben. Gemäß den Traumzeitgeschichten und laut Wikipedia handelt es sich um dünne, stock-ähnliche Kreaturen, die Felsspalten bevölkern. In ihren Interaktionen mit den indigenen Einwohnern Australiens haben sie sich als großartige Lehrer erwiesen, als Beschützer und Bewahrer des Landes und der Kultur. Sie haben den Menschen beigebracht zu jagen, Nahrungsmittel zuzubereiten und sie in die Kunst der Malerei eingeführt.

Vor der Ankunft der Aborigine Völker hatten die Mimis eine den Menschen ähnliche Gestalt. Seit der Ankunft jedoch haben sie ihre Stock-ähnliche Erscheinung angenommen und suchen seitdem in Steinspalten und Felsenformationen Schutz vor unvorteilhaften Winden.

Die meisten schriftlichen Quellen geben an, dass die Mimis aus Australiens Arhem Gegend stammen (oder sogar aus Arhemland). Benannt wurde die Gegend nach einem Schiff, das wiederum seinen Namen der holländischen Stadt Arnheim verdankt. An dessen Bord entdeckten 1623 holländische Seeleute Australien für sich, nahmen aber dabei weder das Land in Besitz, noch benannten sie den Ort. Dabei ist festzustellen, das Mimis seit dem Anbeginn der Zeit viele der, von den verschiedenen Nationen bevölkerten Gegenden um „Arnhem“ bevölkern: Gunbalang, Gunibji, Gungurugoni, Nakara, Buarra Gungwinggu, Dangbon, Rembarnga, Ngalkbun, Ngandi, Yolngu, Ngalakan, Nunggubuy Warnindilyakwa aber auch Nationen außerhalb von Arnhem, wie zum Beispiel die Jawoyn Nation die unmittelbar an Arnhemland angrenzt.

image3

Dilly

Dillybags sind „traditionelle“, aus pflanzlichen Fasern gewobene Taschen der Australischen Aborigines. Sie dienen zum Transport von Lebensmitteln, Werkzeugen, Utensilien für

Medizin, Zauberei und auch Nachrichten. Das Wort „Dilly“ ist dabei ein kolonialer Terminus den Baylis bewusst aufnimmt für seine elongierten Wollobjekte, die jene traditionellen Taschen mit den, mit Text besetzten Skimützen des amerikanischen Künstlers Cary S. Leibowitz kreuzt. Dieses sehr spezielle Dilly aus dem Jahr 2009 zeigt den Text: „am an animal and a plant“ und bezieht sich damit auf eine Arbeit von Vernon Ah Kee, die in breiten schwarzen Vinylbuchstaben den Text „not an animal or a plant“ auf eine weiße Wand bringt. Ah Kee spricht damit auf das Australische Referendum von 1967 an, in dem eine Mehrheit von AustralierInnen sich dafür aussprach, Aborigines als Mit- Menschen anzuerkennen und sie nicht länger zur Flora und Fauna des Kontinents zu zählen.

Siegessäule

Die Berliner Siegessäule bildet das konfrontative Element in dieser Begegnung. 1878 wurde sie errichtet um dreier Kriege zu gedenken, die schließlich zur Gründung der deutschen Nation als ein von preußischem Militarismus dominiertes Kaiserreich führten. Alle Metallteile, die über allem schwebende, vergoldete Viktoria Statue inklusive, sind aus von den besiegten Feinden erbeuteten Kriegsgut gegossen. Jedem Krieg ist eine Säulentrommel gewidmet, die in ihren Kannelierungen mit je zwanzig vergoldeten Kanonen bestückt sind.

Anlässlich der Bauarbeiten zur Welthauptstadt Germania, ließ Hitler 1938 die Säule auf die Ost/West Achse versetzten und nach eigener zeichnerischer Vorlage um eine weitere Trommel erhöhen, der besseren Proportionen wegen. Eben so wie Beuys 1964 vorschlug die Berliner Mauer zu erhöhen um fünf Zentimeter, der besseren Proportionen wegen.i Außerdem wurde die Siegessäule nach Westen ausgerichtet, dort lagen die vergangenen Siege des „Zweiten Reiches“ ebenso wie die zukünftigen Siege des „Dritten Reiches“. Die ehemals auf die Erinnerung der drei Siege und damit auf die Vergangenheit zielende Säule, wurden so,

mit aggressivem Unterton, auf die Zukunft ausgerichtet. Zusätzlich baute Albert Speer der Siegessäulen einen externen Ein – und Ausgang und ein Toilettenhäuschen an den Rand des Tiergartens. Dies sind in Berlin die einzigen erhaltenen Gebäude Speers, der mit Germania geplant hatte, die halbe Stadt zu überbauen.

image4

Die Installation

Im Raum der 11m2 treten die Siegessäule und das Mimi einander gegenüber. Beeindruckend ist diese Begegnung zuallererst einmal mit dem Blick auf Zeit. Als Säulenmonument geht die Siegessäule auf Weih- Opfersäulen der Antike zurück. Die Viktoria hat ihre Vorbilder in zwei Nike Statuen, von denen die eine auf 190 vor Christus, die zweite auf 490 vor Christus zu datieren ist. Für europäische Vorstellungen ist das eine große Zeitspanne. Die Mimis hingegen verfügen über eine ungebrochene, zeitliche und räumliche Präsenz seit dem Anbeginn aller Zeit!

Aber auch inhaltlich ist dieses Aufeinandertreffen ausgesprochen kontrastreich. Die Siegesgöttinnen als Niken oder Viktorien, stehen für militärische Überlegenheit und erfolgreich angewandte kriegerische Gewalt. Selbst, da noch, wo sie sich als Friedensengel ausgeben, insistieren sie stets auf dem Krieg als notwendige Voraussetzung für den Frieden.

Die Mimis hingegen erscheinen als Lehrer, sie sind die Hüter der für den Menschen entscheidenden Kulturtechniken, das Kochen, Weben, den Tanz und das Malen. In Abwesenheit einer Schriftsprache tritt die Malerei als Speichermedium für Wissen, Kultur und Geschichte auf. Die Mimis üben sich auch selbst in der Felsenmalerei. Etliche ihrer Werke sind bis heute erhalten. Zudem sind sie Bewahrer der Natur und stehen für den verantwortungsvollen Umgang mit der Tierwelt ein.

Selbstbehauptung und Inanspruchnahme

In diesem Spannungsfeld zwischen europäischer Gewaltverherrlichung und friedlichen Traumzeitgeschichten steht zwischen Siegessäule und Mimi das Dilly. Seine Schriftseite ist dem Mimi zugewandt, der Endfaden ein wenig verlegen zur Seite gelegt. Nach guter europäischer Manier ist es als ein Studienobjekt wissenschaftlichen Interesses, als ein Sammlerstück für ein Kuriositätenkabinett, wie ein ausgestopftes Wesen, wie eine getrocknete Pflanze unter einer Glashaube ausgestellt. Derweil breitet das Mimi seine „Arme“ aus, bereit zu umärmeln, zu beschützen. Es öffnet sich damit sinnbildlich dem im dreizehnten Jahrhundert erfundenen Typus der Schutzmantelmadonna. Hier wird „Maria in weitem Mantel dargestellt, unter dem beiderseits (maßstabverkleinerte) Gläubige in bittender oder betender Gebärde versammelt sind.“i In diesen Darstellungen öffnet Maria den Mantel mit beiden Händen und scheint die Gläubigen den BetrachterInnen zu präsentieren, gerade so, als wolle sie ein anderweitig gut bewahrtes Versteck enttarnen.

Dem Mimi ist das Stoffliche des schützenden Mantels schon in seiner Substanz als Wollstrickerei zu eigen. Dies gleicht die ansonsten fehlende Bekleidung aus. Schließlich jedoch machen vor allem die weit ausgestreckten Arme deutlich, wo das große Potential des Bergens für ein Mimi liegt

Das Dilly wiederum, das hier im Zentrum steht, mag als zwischen der Siegessäule und dem Mimi als zwei Polen einer einander widersprechenden kulturellen Ordnung gefangen erscheinen. Doch Troy-Anthony Baylis präsentiert ein Strickobjekt, das sich stolz als zur Flora und Fauna zugehörig outet und somit eine alternative Identität für sich in Anspruch nimmt. Bedenkt man, dass die Mimis bis zu ihrer Begegnung mit den Ureinwohnern Australiens selbst Menschengestalt hatten und diese zugunsten der Aboriginies ablegten, so macht durchaus Sinn, dass jenes selbstbewusste Wollobjekt eine frei gewordene Identität als Leerstelle erkannt und per Akklamation für sich besetzt hat.

Und letztlich hat auch die Siegessäule ihre Befreiung vom Militarismus erlebt. Hier erwies sich der historisch so bedeutende Toilettenbau von Albert Speer als Coming-out Hilfe. Da eine Toilette am Rand eines großen Cruisinggebietes ganz einfach zur Klappe prädestiniert ist, erfuhr der Ort eine schwule Übernahme mit der Siegessäule und ihrer in Gold erstrahlenden Viktoria als weiblicher Schirmherrin des männlichen Geschehens. In dieser Rolle wurde sie zudem Postergirl und Namensgeberin des auflagenstärksten LGBT Magazins Europas. Und so steht schließlich die Viktoria auf ihre alten Tage endlich für mehr ein als nur den Kriegs- und Nationalismus- Schrott vergangener Tage. – Auch wenn die Göttin zu diesem Deckmäntelchen ungefähr so gekommen ist, wie das nackte Woll-Mimi zu seinem Schutzmantel… .

Was jedoch letztendlich wirklich zählt ist die sich seiner selbst bewusste Selbstbehauptung und eben dafür steht in den 11m2 ein tapferes Dilly als ebenso aufrechtes wie leuchtendes Beispiel ein.

Rafael von Uslar

i Max Imdahl: Hans Holbeins „Darmstädter Madonna“ – Andachtsbild und Ereignisbild., in: Max Imdahl Hrsg.: Wie eindeutig ist ein Kunstwerk?, Köln, 1986, S. 12.

i Joseph Beuys: Lebenslauf / Werklauf, Festival der Neuen Kunst 20 Juli 1964, Aachen, in: Beuys. Die Revolution sind wir, Hrsg.: Eugen Blume und Catherine Nichols, Göttingen, 2008, S.222.

 

troy anthony bailey 58, 2019


 

Troy-Anthony Baylis: 
Schutzmantelmadonnamimi
Since the German premier of Troy-Anthony Baylis’s first two mimis in the exhibition We’re Justified And We’re Ancient at 11m2 in 2016, the artist will present the third materialisation as a mimi called Schutzmantelmadonnamimi in Berlin – an exclusive world premier on Sunday 1 September at 7pm at 11m2. 
Schutzmantelmadonnamimi is also the name of a new pop-up experiment at 11m2 set up as the confrontation of two most distinctively different instances of self-assertion and the claiming of identity.

On the stage Schutzmentelmadonnamimi (the third ‘mimi’) rises with extended arms over a knitted and embroidered ‘dilly’ sculpture that is protected under a glass dome on a plinth. Behind this rather special engagement between two knitted objects a photographic image takes over a wall. The photographic image is of the artist standing and knitting in front of the Berlin Siegessäule. There is a visual suggestion of the column continuing through the body of the mimi sculpture-in-progress, which in this instance, unfolds as mere knitwear like a skin without inners. Using the artist’s body as a crotch, the limp mimi is attempting to reach out for the column. In a perspective of reversal, Siegessäule bleeds across its base down Albert Speers’ steps. 

Mimi

Mimis are pre-creation spirits of several Aboriginal cultures from the northern centre of the Australian continent. According to The Dreaming and to Wikipedia they are tall, thin beings that live in the terrain of rocky escarpments. In their interactions with indigenous Australians Mimis have proven themselves as great educators, guardians and keepers of land and culture; teaching people to hunt and prepare food and the art of painting. 

Prior to the arrival of Aboriginal peoples Mimis were of human shape. Ever since the arrival, Mimis resorted to take the form of stick-like creatures that seek protection in the cracks and creases of rock formations from unfavourable winds.

Most published resources claim Mimis to be of the Arnhem region (or even Arnhemland) of Australia named after a Dutch ship that was named after the Dutch city. In 1623, on board the Arnhem ship, Dutch sailors ‘discovered’ Australia for themselves, but did not claim or name. Ever since the beginning of time Mimis have populated many of the populate the already established nations throughout Arnhem: Gunbalang, Gunibji, Gungurugoni, Nakara, Buarra Gungwinggu, Dangbon, Rembarnga, Ngalkbun, Ngandi, Yolngu, Ngalakan, Nunggubuy Warnindilyakwa but also nations outside of Arnhem including the Jawoyn nation located just outside of the Arnhem region.

Dilly

Dillybags are ‘traditional’ bags woven from plant fibres. They serve in the transport of groceries, tools, and utensils for medicine, magic, and messages. The word ‘dilly’ is a colonial label which Baylis consciously takes on to brand his elongated woollen objects that are a cross breed between the traditional bags and ski hats with text produced by the American artist Cary S. Leibowitz. This particular dilly from 2009 features the text: “am an animal and a plant” thereby referring to a work by Vernon Ah Kee: his fat black vinyl letters form the statement “not an animal or a plant” on a white wall as well as other applications. Ah Kee is referencing the Australian Referendum of 1967 when the majority of Australians voted to acknowledge Aboriginal peoples as fellow humans, as citizens, no longer viewing them as part of the flora and fauna of he continent. Baylis is twisting it yet again as an identify claim.

Siegessäule

The Berlin Siegessäule constitutes the confrontational element in this encounter. It was erected in 1878 to commemorate three wars that ultimately led up to the founding of the German nation as a Kaiserreich dominated by Prussian militarism. All metal components of that monument including the gilded Viktoria hovering over the entire scenery were cast from weapons captured from the defeated enemies. Each segment of the column was dedicated to one of the three wars. In addition to that each fluting of the column was adorned by a gilded canon from each war.  

Upon the occasion of the construction work for Germania, the World Capitol, Hitler had the Siegessäule moved to the East/West axis in 1938. According to a genuine hand drawing by the “Führer”, the Siegessäule was extended by a fourth segment for the sake of better proportions.  Rightly so Beuys suggested in 1964 that the Berlin wall should be raised by 5 centimetres for the sake of better proportion!i Furthermore Hitler ordered for the Viktoria sculpture to be oriented towards the west. It was there that the great victories of the “Second Reich” had been won it was there that the future victories of the “Third Reich“ were to be won. Formerly this monument had been directed at the past focussing on historic victories. Now it was redirected at the future not without a distinctly aggressive undertone.

At the monument‘s new location Speer added an external entry and exit as well as a public toilet building at the edge of Tiergarten. These are the only buildings of Speer that survived in Berlin, after he had planned to rebuild half of Berlin in the realization of Germania. 

The Installation

At 11m2 Siegessäule and Mimi confront one another. One impressive aspect in this encounter is the dimension of time. As a monument of columns Siegesäule dates back to the benediction and sacrificial columns of Greek Antiquity. The models for Viktoria are two Nike statues, one of them dating back to 190 before Christ, the second back to 490 before Christ. For European minds this is a grand time span. The Mimis however possess an uninterrupted presence in time and space since the beginning oft he times. Try to beat that!

This encounter however is not only challenging on the level of time but also on the level of content or direction. The victory goddesses in the form of Nikes or Viktorias stand in for military superiority and the successful implication of martial violence. Even when those goddesses attempt to pass as angels of peace, they insist on war as an indispensable precondition for peace. 

The Mimis by contrast appear as teachers, they are the keepers of cultural techniques crucial fort he survival and well being of mankind such as cooking, weaving, dance and painting. In the absence of a literary language painting becomes the main data storage device for knowledge, culture and history. But Mimis are painters in their own right. There are rock paintings that have been preserved to this day giving visual proof of their artistry. On top of that Mimis are guardians and nature and teach a respectful dealing with fauna. 

Self-assertion and utilisation

In the midst of this voltage field of European glorification of violence and peaceful dreaming, right between Siegessäule and Mimi, the Dilly is standing tall. It is looking up at the Mimi, it’s tail curl shyly put aside. In a good and appropriate European manner it is presented as an object of scientific study, a collector’s item for a curiosity cabinet, a taxidermy animal, a dried plant sample, captured under a glass dome.

Meanwhile Mimi reaches out its arms ready to embrace, to protect. Emblematically it opens up to the type of Schutzmantelmadonna as it was invented in the 13thcentury. Here “Mary is depicted in a wide cloak under which, on both sides believers are shown in positions of pleas and prayers”.ii In these depictions Mary is opening her coat with both hands and seems to present those believers to her audience, just as if she was giving away those which are otherwise in safe hide-out. 

In their essential substance as wool knittings the Mimis call the very texture of the protective coat part of their own fabric. This compensates for the otherwise obvious lack of garment. In the meantime the extended arms give convincing visual evidence of the great and obvious potential for salvage a Mimi is capable of.

The dilly on the other hand taking centre stage, may appear to be captured in a lock between Siegessäule and the Mimi in a bipolar configuration. Troy-Anthony Baylis however presents the knitted object outing itself proudly as being part of flora and fauna. It thereby claims an alternative identity. Taking into consideration the fact that Mimis prior to their encounter with the Aborigines had taken on human form for themselves only to give it up in favour of Australia’s Indigenous population, it makes a lot of sense that this self-conscious wool object identifies a vacant identity position and subsequently occupies it via acclamation.  

Then ultimately even Siegessäule experiences a liberation from militarism. In this case Albert Speer’s historically significant toilet edifice proved to be the crucial coming-out support. A public toilet located on the outskirts of a vast cruising area is simply predestined to become a beat. Thereby the location was subject to a gay take-over with Siegessäule with its shiny golden glitter Viktoria becoming the female patron of the all-male action. This is exactly how Siegessäule finally identified as Postergirl and eponym of Europe’s highest circulation LGBT magazine. So finally Viktoria as a lady of age no longer needs to identify for the war debris of days of past.

Even if the goddess came upon the fig-leaf cloak just about in the same way as the naked wool-Mimi came upon its protective coat in the interpretation of the Virgin of Mercy.


In the end however what really counts is the self - conscious self-assertion and this is exactly what this one brave Dilly stands in for: All upright and a bright and shining example.
Rafael von Uslar

i Joseph Beuys: Lebenslauf / Werklauf, Festival der Neuen Kunst 20 Juli 1964, Aachen, in: Beuys. Die Revolution sind wir, Ed.: Eugen Blume und Catherine Nichols, Göttingen, 2008, P.222.

ii Max Imdahl: Hans Holbeins „Darmstädter Madonna“ – Andachtsbild und Ereignisbild., in: Max Imdahl Ed.: Wie eindeutig ist ein Kunstwerk?, Köln, 1986, P. 12.

 

Tony Clark – Villa Sino – Turk – Romana

Tony Clark:

Villa Sino – Turk – Romana

einladung_Tony_Clark_Facebook

Ein Projekt für 11m2, Berlin
.
Der australische Maler Tony Clark zeigt in den 11m2 Entwürfe für eine hypothetische
Villa Sino-Turk-Romana. Jedes Gemälde tritt hier als ein Stellvertreter für andere Objekte und Medien auf. Es handelt sich um “Entwürfe” für Mosaiken, für Vasen, für Deckengemälde, etc. Während die Darstellungen sich in den Kontext der Geschichte der “westlichen” Malerei stellen, rezipieren die herbei zitierten Dinge zeitgenössische Formen von Chinoiserien und Turquerien. Die Villa selbst, die solch komplexem Exotismus Heim und Plattform bietet, gründet in ihren Fundamenten auf einen, sich auf romanische Traditionen beziehenden, unverwüstlichen Klassizismus.
.
Tony Clark 20, 11qm, 2018
.
In Berlin knüpft Clark an seine Entwürfe für eine Villa Sino-Romana an, die er 1987 in Sydney ausstellte: Eine Serie von Gemälden, in denen er eine klassizistische Formensprache mit den Phantasien historischer Chinoiserien verband. Seine Ausstellung markierte dabei als sichtbares künstlerisches Zeichen den Beginn eines bedeutenden politisch-kulturellen Paradigmenwechsels, der sich Anfang der 90er Jahren in Australien vollzog. Eine bis dahin unerschütterlich anglophile, eurozentrische Gesellschaft öffnete sich der Realität der mehr als 100 Jahren währenden Einwanderung aus Asien, um schließlich sogar die Verortung des Kontinents im pazifischen Raum anzuerkennen.
Die Bereicherung der Villa um die Wunder der Turquerie ist Clarks Tribut an Berlin, an Deutschland, an ein Land, das zwar zu einem späten Coming Out als Einwanderungsnation gefunden haben mag, aber dennoch nicht müde wird, selbst auf höchster politischer Ebene eine Diskussion darüber zu führen, ob eine – von Millionen von BürgerInnen des Landes praktizierte Religion – zur nationalen Identität eben dieses Landes “gehört”.
.
Welch besserer Ort für eine Villa in klassizistischer Tradition als der einer Pförtnerloge der Jahrhundertwende, in der Mommsentrasse in Berlin? Welch bessere Nachbarschaft als die dem “Exotismus” in seinem besten Wortsinn Ehre erweisenden Charlottenburger Sammlerhaushalte des frühen 20. Jahrhunderts?
Welch bessere Strategie eine Eindeutigkeit in der narrativen Vermittlung zu finden, als jene, die jede Form der Äußerung als selbsterklärte Stellvertreter für eine mehrfach zu vollziehende, kulturelle Übersetzungsleistung einsetzt? Welch besserer Ort als Australien um klar zu sehen, worüber in Deutschland zu sprechen ist?
Tony Clark 18, 11qm, 2018
.
Represent
Den Garten der Villa verlegt Clark in die 11m2 “Garage”, die er komplett ausgemalt hat, als eine Bühne für den Auftritt der australischenTänzerin Shelley Lasica und ihr gemeinsames Performance-projekt Represent.
In dieser Performance greift Lasica auf Motive der in England sehr berühmten Portland Vase zurück. Bis heute ist es Forschern nicht gelungen, die Muster der Erzählung dieser Vase eindeutig zu bestimmen. Mit ihrem interpretativen Tanz erstellt Shelley Lasica eine weitere Übersetzung im Rahmen des, mit Übersetzungsleistungen nicht eben geizenden Projekt der Villa Sino-Turco-Romana in den 11m2.
.
Tony Clark 15, 11qm, 2018
.
Villa SinoTurk-Romana @ 11m2
Die Villa Sino-Turk-Romana ist eine Einladung zur Horizonterweiterung. Sie lenkt den Blick auf den Reichtum einer Kultur, der sich dem Fremden gegenüber öffnet um das Fremde schließlich in neuer Form als das facettenreiche Eigene wiederzuerkennen.
So wird inhaltlich, unter Indienstnahme eines ironisch, kritischen Exotismus, in einem
interkulturellen Brückenschlag zwischen Australien und Deutschland, die Anerkennung von kulturellen Einflüssen von Einwanderergemeinschaften auf die Einwanderungsgesellschaft zum Thema dieser Ausstellung.
Vor allem aber bietet diese Villa mit Tony Clarks Bildern eine spannende, konzeptionell kluge, höchst ironische und dabei ästhetisch ausgesprochen verführerische Malerei.
.
.
Anmerkungsapparat
Tony Clark, Malerei
Die Malerei von Tony Clark gründet wesentlich auf konzeptionellen Überlegungen.
Bekannt wurde er mit seinen Myrioramas, die aus Einzeltafeln bestehenden,
kontinuierlichen Landschaftsbilder, welche sich in nahezu endlos erscheinenden
Kombinationen in ihrer Reihenfolge neu zusammenstellen lassen. Das Prinzip geht auf das, von John Clark im Jahr 1824 patentierte Gesellschaftsspiel zurück. welches aus gedruckten Tafeln mit kontinuierlichen Lanfdschaftsdarstellungen besteht.
.
In einem Interview mit Robyn McKenzie stellte Clark fest, das sich eines seiner Myrioramen gleichermaßen für einen Auftritt bei der documenta IX, dem Cover eines
Nick Cave Albums und schließlich einem Einband des Readers Digest geeignet hätte. Für ihn stellt dies einen Idealfall seiner Malerei dar. Clark zelebriert die Malerei an deren Außenrändern, dort, wo sie immer mehr ist als nur ein Bild. Was schließlich kann eine größere Herausforderung darstellen, als ein Entwurf zu sein? Vor diesem Bild liegt immerhin nichts Geringeres als eine Zukunft voller Möglichkeiten!
.
Tony Clark 13, 11qm, 2018
.
Chinoiserie
Im 18. Jhd. etablierte sich in der westlichen Kultur ein idealisiertes Bild Chinas. Diese
Sicht stellt, vor dem Hintergrund defizitärer Strukturen in Europa ein Modell eines
exotischen Utopias im Sinne eines wesentlich fiktionalen Gegenentwurfs dar. Damit
eignete sich das Asiatische als Idylle und als Traumort, ein Ort der Mythen und der
fiktiven Verschönerungen und unglaublicher Bildungsstandards. Ökonomen und
Philosophen deuteten ein China der Reiseberichte vor dem Hintergrund ihrer Kritik
an der von ihnen durchlittenen europäischen Realität. Fortan eignet sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit alles imaginierte Chinesische als progressiver Modetrend.
.
Turquerie
Am Beginn einer Einflussnahme osmanischer Kultur auf den Westen Europas steht
ein bedeutender Wissenstransfer. Auch wenn das Osmanische Reich mit seiner
Expansion auf dem Balkan und der Belagerung von Wien den Europäern militärisch
und auch wirtschaftlich in die Quere kam, wurden die “Orientalen” jedoch zunehmend
als Inspiration für exotische Moden, als Handelspartner und vermeintliche Vorbilder
für einen Lebensstil großer sexueller Freizügigkeit wahrgenommen. Trotz der größeren räumlichen und physischen Nähe der Kulturen, wurden auch die Osmanen vor allem zur Projektionsfläche europäischer Phantasien und Wunschvorstellungen.
.
Spätestens im 20. Jahrhundert wird die Türkei schließlich zum “nahen” Orient. Nach
einem signifikanten Intermezzo, in dem Atatürk das Land zum Zufluchstsort verfolgter deutscher Advangarde machte wurde die Turkei zum Land der Emigration nach Europa. Die Alltagspräsenz der Menschen, die auf diese Weise neue Lebensmittelpunkte gefunden haben, aber nicht zuletzt auch die Arbeit türkischstämmiger Intellektueller und KünstlerInnen, verleihen türkischer Kultur und dem muslimischen Glauben seither einen wichtigen Einfluss in den meisten Staaten Westeuropas.
.
Sydney 1987
Im Jahr 1987 stellte Tony Clark eine erste Fassung seines Projektes einer Villa Sino-
Romana in einer Ausstellung in der Galerie Roslyn Oxley in Sydney vor. Das Projekt
bestand aus einer Serie von Gemälden, in denen Clark klassizistische Formensprache mit Chinoiserien verband. Klassizismus traf also auf einen eher phantasmagorischen Blick auf Chinesische Kultur. Die Villa Sino-Romana verstand sich dabei als eine alternative Herangehensweise an das ‘Problem’ von Stil im Post-Aglozentrischen Australien.
.
Tony Clark 04, 11qm, 2018
.
Obwohl es seit dem 19. Jhd. eine kontinuierliche Einwanderung aus asiatischen Ländern – vor allem aus China – gab, fanden beispielsweise asiatisch stämmige Kulturschaffende noch in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem über ihre Assimilation Eingang in die von der öffentlichen Wahrnehmung akzeptierten Kultur.
In den 90er Jahren bis zur Jahrtausendwende fand in Australien ein bedeutender paradigmatischer Wandel statt. Die nicht-weißen Einwanderungsgruppen werden seither als prägend für das kollektive kulturelle Bewusstsein anerkannt. Australien lokalisiert sich bewusst und strategisch im Asiatisch-Pazifischem Raum.
”Reconciliation” und darüber hinaus eine Besinnung auf Bedeutung und Reichtum der indigenen Kulturen des Kontinents werden als eine gesellschaftliche und politische Aufgabe anerkannt. Als Einwanderungsgesellschaft kommt Australien heute damit aus deutscher Sicht eine Vorbildfunktion zu.
Tony Clark 09, 11qm, 2018
.
Berlin 2018
In Berlin erweitert Clark das Villenkonzept um die Turquerie. Er trägt damit einem besonderen Phänomen Rechnung: Nach mehr als einem halben Jahrhundert der
Einwanderung von Menschen aus muslimisch geprägten Ländern, vornehmlich der Türkei, ringt die Bundesrepublik immer noch um die Anerkennung einer Prägung der
kollektiven Kultur dieser Einwandergruppe. Noch unter Verkennung der im Grundgesetz festgeschriebenen Religionsfreiheit bleibt die Frage nach der Zugehörigkeit “des Islams” zu Deutschland ein nationaler Aufreger. Dafür gibt es einen Heimatminister. “Heimat” ist eine Baustelle, die viel Platz für die unterschiedlichsten Villen, Hütten und Paläste bietet. Vor allem aber kann Heimat der magische Ort sein, an dem sich Bewahrung und permanenter Wandel widerspruchsvoll vereinen. Clark selbst unterhält Lebensstandorte in Australien, Italien und Deutschland. Sein Blick auf Europa ist geprägt von einem großen Interesse an der Kulturgeschichte des Kontinents. Sein wohlinformierter künstlerischer Kommentar ist in Berlin auch gerade deshalb so interessant, weil Clark solches Wissen in Beziehung setzt zu seinen Erfahrungen, die er zu allererst in einer Kultur gewonnen hat, die wesentlich auf Immigration und Integration gründet.
.
MyBerlinWall 2018: Anny und Sibel Öztürk
Der Villa Sino-Turk-Romana antworten die deutsch-türkischen Künstlerinnen Anny
und Sibel Öztürk mit einer Installation für MyBerlinWall in der Kantstraße: Wallhangings Floorlayings.
.
Sie zeigen eine Arbeit aus großen, handbemalten Teppichen, die in ihrem Formenhaushalt “Klassiker” der Moderne zitieren. In ihrer, sich auf familiäre Erinnerungsgeschichten gründenden Formensprache, zollen sie mit ihren Teppicharbeiten ihrer Großmutter väterlicherseits Tribut, die eine, in ihrer Zeit erfolgreiche Teppichgestalterin in Rumänien war. Familiäre Erinnnerung verbindet sich mit kultureller Erinnerungsarbeit in Form einer Rezeption einer zeitgleichen, westlichen Moderne. In der Verschränkung dieser Ebenen, arbeiten sie aus einer Position heraus, in der sie mehr als ein kulturelles Erbe ihr Eigen nennen.
.
Ihre Teppicharbeiten haben einen sehr großen dekorativen Wert, erschließen sich jedoch bei genauerem Hinsehen als Werke von bemerkenswerter erzählerischer Komplexität. Entscheidend in ihrer Arbeit jedoch, ist die Einlassung auf den jeweiligen Raum, den sie bespielen. Ihre Installation für MyBerlinWall läßt sich vordergründig sehr vermittelnd auf die besonderen Bedingungen einer Ausstellung in privaten Räumen ein. Auf der anderen Seite torpedieren die Künstlerinnen genüßlich die ihnen gewährte “Gastfreundschaft”.
.
An gleichem Ort haben sie bereits im Jahr 2011 mit Unspeakable Home in einer überaus beeindruckenden Installation die unaussprechliche Evidenz der Übereinstimmung einer Erinnerungsgeschichte an den großelterlichen Haushalt mit dem Wintergarten von Adolf Hitlers Berghof in einen Charlottenburger Erlebnisraum verwandelt.
.
Rafael von Uslar
.
Photos von Boris von Brauchitsch
english version below

Tony Clark 28, 11qm, 2018

 

 

 

New-logo-3-schwartz

einladung_TONY_CLARK_Rück_Facebook_r
einladung_Shelly_TONY_CLARK_Facebook_r
———–

Tony Clark:

Villa Sino – Turk – Romana

.
A project for 11m2, Berlin
.
At 11m2 Australian painter Tony Clark presents his designs for a hypothetical
Villa Sino-Turk-Romana.  Each painting acts as a substitute for another object or medium.
These are ”designs” for mosaics, for vases, for ceiling paintings and so forth. While
the painted images operate within the context of a tradition for Western painting, the
summoned objects adapt contemporary forms of chinoiserie and turquerie.
Meanwhile the villa offering both home and platform to such ambitious exoticism, has
its foundation in a resilient classicism following a roman tradition.
.
In Berlin Tony Clark builds on his designs for a Villa Sino-Romana he exhibited in
Sydney in 1987. The show featured a series of paintings that combined a classicist
design vocabulary with historical chinoiserie. His exhibition set a visible artistic
example for a significant political and cultural paradigmatic change that occurred in
Australia in the early 1990s. A society with unswerving Anglophilia and Eurocentrism
opened up to the reality of more than a hundred years of immigration from Asia, only
to ultimately accept the continent’s localization in the pacific area!
.
Enriching the villa with the wonders of turquerie is Clark’s tribute to Berlin, to
Germany, to a country that may have had a late coming out as a nation of
immigration. It is a country however that seems to never grow tired of discussions,
even on the highest political level, concerning the issue whether a religion – practised
by millions of it’s citizens – is part of the national identity in a sense of “belonging” or
not.
.
What better places for a villa in a classicist tradition than that of a porter’s lodge in
Berlin’s Mommsenstraße? What better neighbourhood than those early 20th century
Charlottenburg collector’s households which payed tribute to “exoticism” in the best
sense of the word? Which better strategy to achieve unambiguity in a narrative
discourse than to implement each form of statement as a self declared substitute for
a quest for multiple acts of cultural translation? What better place than Australia to
get a clear perspective what needs to be addressed in Germany?
.
Represent
Tony Clark relocates the Villa’s garden into the 11m2 “garage” which he outfitted
completely with his paintings to serve as backdrop and stage for the performance of
Australian dancer Shelley Lasica staging their long-term collaborative project
Represent
.
In her performance Lasica draws upon the motifs of the Portland Vase, an antique
object of considerable fame in Britain. Scholars have as yet not been able to
successfully decipher the patterns of the vase’s narratives. With her interpretive
dancing Shelley Lasica issues yet another translation in the context of this Villa Sino-
Turk-Romana at 11m2 – a project not exactly sparing with acts of translation in the
first place!
.
    Villa Sino-Turk-Romana @ 11m2
The Villa Sino-Turk-Romana is an open invitation to broaden one’s horizon. It is
directing the focus on the affluence of a culture that opens up towards what may
appear to be foreign only to ultimately recognize the “foreign” in a new form as part of
the culture’s very own multifaceted identity.
.
Thus, employing an ironical and critical view on exoticism along with some
intercultural bridge building between Australia and Germany, the exhibition has the
acknowledgement of cultural influences of immigrant communities on immigration
societies for a theme.
.
Most importantly however the Villa, featuring Tony Clark’s works, provides for
fascinating, conceptually clever, highly ironic and yet aesthetically compelling
painting.
.
Rafael von Uslar
.

Hans Georg Berger – VIPASSANA MOVEMENT

HANS GEORG BERGER:

This natural faculty transforms ignorant people into skilful people and makes already skilful people even more skilful:

VIPASSANA MOVEMENT

11qm, sathou nyai one keo, 2018, 75a Kopie

Ausstellungs -und Veranstaltungsansichten: Boris von Brauchitsch/Berlin

Hans Georg Berger ist ein Konzeptkünstler, der sich des Mediums der Photographie bedient. Er entwickelt Langzeitprojekte in denen er sich auf andere Kulturen und Religionen einlässt. Hierzu gehören photographische Untersuchungen zum Theravada Budhismus in Burma, Kamboscha, Laos und Thailand und eine Langzeitstudie zum Shiismus im Iran.

In diesen Begegnungen tritt er erklärtermaßen als ein Lernender auf, mit der Einladung an sein Gegenüber Wissen und Einsichten zu teilen. So eröffnet er einen Arbeitsprozess, in den er die Menschen, die er zu Protagonisten seiner Arbeiten macht, mit einbezieht. Es ensteht ein Verhältnis, in dem gegenseitiges Vertrauen die Grundlage für eine gemeinsame Arbeit bietet. Den budhistischen Mönchen in Laos zum Beispiel legte er seine, in der Begegnung mit ihnen entstandenen Photographien, immer wieder vor und machte deren Kritik, Lob und Anregungen zur Basis seiner weiteren Arbeit vor Ort.

So entstehen bedeutende interkulturelle Projekte, die als Soziale Plastiken agieren, ganz im Sinne von Joseph Beuys.

Der traditionelle europäische Blick auf außereuropäische Kulturen ist geprägt von anthropologischen und vor allem ethnographischen Perspektiven. Die Abgebildeten sind Objekte der analysierenden Beobachtung, möglicher Gegenstand von Forschung.

Hans Georg Berger hingegen gelingt mit seiner künstlerischen Strategie ein entscheidender Perspektivwechsel: Indem er seine Arbeit für Kooperation, Kritik und Einflußnahme öffnet, ermöglicht er denen, die er photographiert, die Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Dies enthebt sie der passiven Rolle als Betrachtungsgegenstand zu fungieren und bindet sie in das Wechselspiel von Bildregie und Autorenschaft der Photographien mit ein.

Auf der Grundlage ihrer langlährigen Zusammenarbeit mit Berger luden ihn die Mönche zu einer Wiederbelebung der Vipassana Meditationen in einem Wald, nahe des Klosters Vat Phone Pao ein.

In den Jahren 2004 und 2005 nahm Berger an diesen Vernastaltungen als ein künstlerischer Chronist teil. Auf diese Weise entstand ein bemerkenswertes Konvolut von schwarz/weiß Photographien, aufgenommen mit einer analogen Hasselblad Kamera.

Als Teil des von France Morin initiierten Projektes The Quiet in the Land, in Luang Praban, Laos von 2004 bis 2008, werden Bergers Photographien seit 2006 unter dem Titel The Floating Buddha im Luang Prabang National Museum als Dauerinstallation präsentiert.

11qm, Sathou Nyai One Keo, 2018, 34 Kopie
Ein weiteres Projekt das in Kooperation mit The Quiet in the Land entstand, ist ein Handbuch zur Einführung in die Vipassana Meditation, das 2006 in Laos veröffentlicht wurde. Zu den Einweisungen des Abtes Phra Ajan One Keo Sitthivong photographierte Hans Georg Berger die beispielhaften Meditationen junger Mönche in sämtlichen einzelnen Bewegungsschritten, diesmal freihändig mit einer Digitalkamera und in Farbe. Als ein „Handbuch für die jungen Menschen in Laos“ wird diese Publikation von der Laotischen Nationalbibliothek kostenlos im ganzen Land verteilt. Eine Soziale Plastik mit Schulbuchqualität im Wortsinne!

Diese als Leporello gestaltete Publikation bildet den Ausgangspunkt für Hans Georg Bergers Installation in den 11m2. Die Ausstellung konzentriert sich auf die Vipassana Movements, eine Meditation in zwei Phasen. Am Ende der zweiten Phase steht die Instruktion zur Wiederholung beider Phasen. Diesem Hinweis folgt die Installation und zeigt die Photos des beispielhaft meditierenden Mönch als einen endlosen Fries. Vervollständigt wird das Ensemble durch eine Photographie von Vier Meistern, einer von ihnen ist Phra Ajan One Keo Sitthivong, Autor des Handbuchs. Auf der „Bühne“ der 11m2 schließlich liegt eine Meditationsmatte aus Laos. Während die Photos des meditierenden Mönchs an der Wand zu einer Art Meditation der Betrachtung einladen, einem rein visuellen und kognitivem Nachvollzug, fordert diese Matte die BetrachterInnen heraus, dem Mönch in seiner Meditation in einer physischen Einlassung des Körpers und einer psychischen des Geistes zu folgen.

Rafael von Uslar

 

 

 

 


 

11qm, Sathou Nyai One Keo, 2018, 28

Der buddhistische Abt Phra Ajan One Keo Sitthivong ist der Autor von “FIRST STEPS OF VIPASSANA MEDITATION. A GUIDE FOR YOUNG PEOPLE IN LAOS”, einem als Leporello gestalteten Lehrbuch zur Vipassana Meditation, das Hans Georg Berger mit einer Vielzahl von Farbabbildungen, als eine Schritt für Schritt Anleitung zum eigenständigen Lernen illustriert hat. Phra Ajan One Keo Sitthivong nahm vom 18.06 – 20.06. 2018 in Berlin an einer Konferenz des Auswärtigen Amtes im Rahmen des Projektes „Friedensverantwortung der Religionen“ teil. Seine erste Auslandsreise führte ihn in Berlin auch in die Ausstellung Hans Georg Berger: Vipassana Meditation in den 11m2.

Es war allen Beteiligten eine besondere Ehre, den Mönch auf einer, aus Laos eingeflogenen Meditationsmatte sitzend, im Gespräch bei Tee zu erleben. Es war eine bewegende Begegnung mit einem überaus freundlichen Mann, der von den Lehrtätigkeiten in seinem Kloster berichtete. Als besondere Geste umschloß er die Handgelenke aller Anwesenden mit einem Wollfaden in exquisitem Orange!

Ein großer und außergewöhnlicher Glücksfall für die 11m2 und unsere Gäste, Phra Ajan One Keo Sitthivong und Hans Georg Berger in einer Ausstellung, die sich wesentlich ihrer langjährigen Zusammenarbeit in Laos verdankt, gemeinsam  in Berlin erleben zu dürfen!

 

 

 

 

 

11qm, Sathou Nyai One Keo, 2018, 30

 

 

11qm, Sathou Nyai One Keo, 2018, 68

11qm, Sathou Nyai One Keo, 2018, 13

Leigh Bowery – The Serpentine Performance

IMG_1001_preview

Photos: Gary Carsley

——————————————————————————————————————————————-

 

NEU_einladung_Leigh_Bowery_rück

 

Amin El Dib – Jacques

Mehr als ein Blick

aed8

Jacques“, eine Installation von Amin El Dib

Amin El Dib bespielt die 11m2 mit einer fast den gesamten Wand- und Fensterraum erfassenden Installation, die in ihrer Gestaltung auf nur ein einziges Bildmotiv zurückgreift.

In einem quadratischen Format erscheint – in einer Schwarz-Weiß-Photographie – das Gesicht eines älteren Mannes, der lächelnd direkt in die Kamera blickt. Diese scheint ihm bedenklich nahe zu rücken so dass jede Falte, jeder Bartstoppel im Fokus erscheint. Die zwangsläufige Distanzlosigkeit wird durch den Bildausschnitt verstärkt, der kompromisslos Augen und Mundpartie in Szene setzt. Am rechten und linken Bildrand werden zwar Konturen des Kopfes sichtbar, in der kontrastreichen Lichtregie kommt diesen Details jedoch eine rein rahmende Funktion zu, als Licht- und Schattenkontrast. Der Bildausschnitt wirkt wie ein Zoom, eine technisch mögliche Nahaufnahme, die einen Blick auf das Gesicht eröffnet, der sich dem Gebot menschlichen Individualabstandes folgend in der Alltagswahrnehmung als unschickliche Nähe verbieten würde. Diese ungewöhnliche Nähe jedoch schafft im Gegenzug eine erstaunliche Distanz zu dem Abgebildeten als wahrzunehmender Person und rückt den von der Kamera eingefangenen, vom Bildausschnitt hervorgehobenen Gesichtsausdruck in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Im Zusammenspiel von Mund, Augen und Gesichtsmuskulatur ergibt sich ein Ausdruck, der in einem ersten Schritt als ein freundliches, mildes Lächeln deutbar scheint. Bei längerem Hinsehen jedoch wird man im Ausdruck der Augen eines Anfluges von Traurigkeit gewahr, der das Lächeln aus der Freundlichkeit in eine unerwartete Schmerzhaftigkeit entgleiten lässt. Beide, so scheinbar widersprüchlichen Eindrücke vermittelt die Photographie dauerhaft.

IMG_5503

Bei diesem Bild mit einer Detaildarstellung eines männlichen Gesichtes scheint es sich um ein Porträt zu handeln. Eine solche Vermutung liegt auch schon deshalb nahe, da der Titel auf einen Eigennamen und damit mutmaßlich auf eine Identifizierbarkeit des Dargestellten weist. Das Bild eines Kopfes oder einer Person ist meist dann mehr als das Bild, das einen Kopf oder Körper bzw. die Gestalt eines Menschen zum Gegenstand hat, wenn „die Individualität des Porträtierten zur Darstellung“i kommt. Es sollten die „Einheit der geistigen Individualität ausgeprägt und der geistige Charakter das Überwiegende und Hervortretende” sein. Dies empfiehlt eine Konzentration auf die Züge und Partien, „in welchen diese geistige Eigentümlichkeit sich in der Klarsten und prägnantesten Lebendigkeit ausspricht.“ii Dies scheint für die der Installation zugrunde liegende Photographie erst einmal uneingeschränkt zu gelten. Der Umgang mit diesem Bild jedoch zieht solche vermeintliche Eindeutigkeit wieder in Zweifel.

Stattdessen lässt sich vielmehr die weitaus spannendere Frage stellen, ob der Abgebildete auch tatsächlich als der Dargestellte im Vordergrund steht, oder ob er nicht allein als Bildanlass erscheint, während als der eigentliche Bildgegenstand die Ambiguität seines mimischen Ausdrucks in den Fokus rückt.

Amin El Dib zeigt „Jacques“ als ein auf transparenter Folie gedrucktes „Dia“ im Fenster und als ein in serieller Wiederholung zum Muster umfunktioniertes Grundmotiv einer Phototapete an drei der vier Wände des Ausstellungsraumes.

aed9

Das Hochformat des Fensters wird von einem weißen Rahmen geschlossen, der das Quadrat des transparenten Bildes umschließt. das sich wandelnde Licht und damit auch sichtbare Elemente des Außenraumes verändern das Erscheinungsbild der Photographie beständig. in seiner in Teilen gegebenen Transparenz wird es zum „offenen Kunstwerk“, dass, indem es Licht und Raum in sich aufnimmt, selbst als Standbild eine gewisse filmische Qualität erlangt.

Als Tapete mit einem allein auf einer Photographie beruhenden Motiv bildet sich eine Musterstruktur, über die sich in steter Wiederholung aneinanderreihenden quadratischen Bildformen. Dazu kommen die, das Gesicht rahmenden Licht- und Schattenflächen, sowie die, sich in einer Art abstrakten Konstellation auflösenden Stellung von Augen und Mundpartie. In der Unzahl der Wiederholungen wird damit schließlich ein ornamental strukturiertes Kachelmuster sichtbar, innerhalb dessen, der porträthafte Charakter der Gesichtsdarstellung, zunächst einmal zurücktritt.

aed3

Kunsthistorisch haben Porträts oder porträthafte Abbildungen in innerbildlichen Wiederholungen und in Serien im Werk von Andy Warhol ein wichtiges Vorbild. In dessen Werk jedoch hat neben den Bildmotiven die bildnerische Sprache des Künstlers, über die Eigendynamik von Schraffuren etwa und die Eigenständigkeit von Farbflächen, eine große Präsenz. El Dibs photographische Tapete hingegen bleibt, abgesehen vom Moment der Wiederholung, gänzlich bei der Gestaltung der ursprünglichen Photographie. Das wiederum hat Konsequenzen in der Wahrnehmung des Motivs als Muster. Dieses lässt sich zwar mit wenigen Blicken erfassen und doch tritt damit in der Anschauung keinerlei Beruhigung ein. Die Präsenz des photographischen Gesichtsbildes forciert eine genauere Betrachtung des verstandesmäßig als Muster längst Durchschauten. Das Auge forscht zunächst einmal einigermaßen rastlos auf der Suche nach möglichen Veränderungen, nach etwaigen minutiösen Variationen des Ausdrucks. Es folgt damit einer naheliegenden Erwartung oder Hoffnung auf ein quasi filmisches Ereignis, das in langen Einstellungen eine Unzahl von Bildern nicht in Bewegung, sondern in additiver Dauerpräsenz zeigen könnte. Und doch bleibt jegliche Hoffnung auf Veränderung und Variation enttäuscht. Zu sehen ist immer nur das immer gleiche Bild.

Damit sieht sich der Betrachter einem direkten bildlichen Blick ausgesetzt, der sich in unüberschaubarer Unzahl wiederholt. Ursprünglich, so lässt sich dies rational erschließen, ist es ein Blick, gerichtet auf die Linse einer Kamera, in einer nicht näher bestimmten zurückliegenden Zeit, an einem nicht näher bestimmten anderen Ort. Es handelt sich um ein auf Papier ausgedrucktes, Bild gewordenes vergangenes Ereignis. Und dennoch kann der Betrachter nicht umhin, diesen Blick als einen, im Moment seiner Betrachtung, auf sich als Person gerichteten wahrzunehmen. Jean-Paul Satre hat auf eindrückliche Weise die Scham beschrieben, die dem „Vom-Anderen-gesehen-werden“ folgt, unmittelbar bevor das eigene Universum im Abflussloch mitten im Sein des Anderen verrint.iii

IMG_5469

In der eigenen Wahrnehmung bleibt sich ein jeder so das Zentrum des Geschehens und in dieser Installation sind es die vielen Augen, die auf dieses eine Zentrum ausgerichtet sind.. Das eigenwillige dieser Erfahrung bleibt, dass noch die Augen längs der Wand, aus der Tiefe des Raumes ihre gleichzeitige Gerichtetheit demonstrieren. Es stellt sich ein Gefühl der Unbeherrschbarkeit und Desorientierung ein und so schafft diese Tapete in Bezug auf die Wahrnehmung des Blicks eine nachhaltige Überforderung.

Über das Erlebnis existentialistischer Blickerfahrungsdramen hinaus eröffnet die Installation zudem eine Perspektive auf ein weiteres, interessantes photographisches Phänomen. In der schier endlosen Wiederholung wird das ursprünglich Singuläre des photographischen Porträts aufgehoben und in eine unendlich fortsetztbare Musterstruktur überführt. Eigentlich bedeutet dies eine Abwertung des Bildes zum Muster. In der Wahrnehmung des Raumes jedoch ist zu beobachten, wie sich ausgerechnet in dieser Struktur eine Steigerung der Ausdrucksstärke des eigentlichen Bildgegenstandes erreichen lässt. Denn, nimmt man Abstand und konzentriert sich auf die Addition der je einzelnen Gesichtsabbildung und folgt ihnen mit der Distanznahme des Betrachters, nicht der des Betrachteten, dann erlebt man eine maßlose Steigerung der Ambiguität im Ausdrucks des Dargestellten.

Amin El Dib gestaltet mit seiner Installation „Jacques“ in den 11m2, mit einfachen Mitteln, einen Raum als physisch erlebbare Herausforderung an die Wahrnehmung eines einzigen photographischen Bildes.

Rafael von Uslar

i Hans Georg Gadamer: Die Okkasionalität des Porträts. In: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990, S. 149ff.

ii Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. In: Band 3, Werke 15, Frankfurt am Main 1990, S. 102.

iii Jean-Paul Satre: Der Blick, in: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Onthologie, Hrsg. von Traugott König, Hamburg, 2009, S. 457ff.

Boris von Brauchitsch – 9

Die Welt im Maßstab von 9 auf 11m2

Boris von Brauchitsch 9 bei 11m2 Berlin

Um auf die gewaltige Flut privater Photos der immer gleichen Sehenswürdigkeiten zu reagieren, setzte mein Vater, der Knipser, sich die Regel, nichts zu photographieren, was er als Postkartenmotiv professionell abgelichtet erwerben könnte. Und so reihen sich an die Festmeter von Alben, gefüllt mit Bildern der immer gleichen Personen, die in den immer gleichen Situationen jedoch zu verschiedenen Zeiten abgelichtet wurden, zwei Bände mit Ansichtskarten.

9, 11qm, juni 2017 multi

Um auf die gewaltige Flut privater Photos der immer gleichen Sehenswürdigkeiten zu reagieren, setzte sich Boris von Brauchitsch, der Photograph, das Regelwerk eines künstlerischen Konzeptes: An sämtlichen Orten, Städten und Landschaften seiner Reisen, wollte er fortan darauf verzichten, die bereits im Vorhinein sattsam bekannten Motive abzulichten. Stattdessen würde er sich auf die je eine Beobachtung einer Besonderheit am Ort konzentrieren und dieser die strikt beschränkte Anzahl von 9 Photos widmen. Den Bildern – als Quadrate formatiert und zu Blöcken angeordnet – wird ein essayistischer Text zur Seite gestellt.

In locker plauderhaftem Ton werden hier, angereichert mit allerlei Anekdotischem zur Reise und etwaigen Begleitern, die Motive aufgeschlüsselt, ihre Entdeckung dokumentiert und meist mit einem pointierten, kulturelle Analyse behauptenden Kommentar bedacht. Photoblock und Text zusammen ergeben so schließlich ein in sich abgeschlossenes Narrativ.

Boris von Brauchitsch stellt mit seinem Projekt die Frage, wer oder was wen legitimiert, etwas mit der Würde des Sehenswerten auszuzeichnen. Einer kollektiven Einigung auf einen möglichen historischen und kulturellen Konsens stellt er eine radikal subjektive Perspektive gegenüber. In 9 bestimmt von Brauchitsch im Alleingang, welchem Motiv repräsentativer Charakter für einen bestimmten Ort zukommt. Dabei wird das Detail, und die sie begleitende erzählerisch aufbereitete Beobachtung sowohl zu einer Darstellung des Orts als auch zu einem Abbild desjenigen, der seinen eigenen Blick hier dokumentiert. 9 das ist ein Reiseporträt ebenso sehr wie ein Selbstporträt.

Ihr reduziertes Format, der serielle Aufbau und ihre Anordnung in Blöcken nimmt die einzelnen Photographien mit ihren individuellen Erzählungen zurück zugunsten der sich in der Serie illustrierenden konzeptionellen Idee. Hier erinnert der Umgang mit den Motiven an den Einsatz von Photographie in der konzeptionellen Kunst, der Spurensicherung und Bereichen der individuellen Mythologien. Zugleich bewirkt die Anlage zum Kachelfeld eine Betonung ornamentaler Qualitäten. In ihren besten manchen Fällen sind die 9 Aufnahmen einfach Typologien spezifischer Objekte, in anderen Reihungen, die als chronologische Folge gelesen werden können, in wieder anderen fügen sich die 9 Einzelbilder als konstitutive Musterstrukturen zu dem einen wohlgestalteten Gesamtornament.

9, 11qm, Juni 2017, 07

Ein ausgesprochen gut entwickeltes Ironiebewusstsein und der an umfänglichem Bildwissen geschulte Blick des Kunsthistorikers sind bei von Brauchitsch das Rüstzeug für Photographien, die zunächst wie lapidare Schnappschüsse erscheinen, um schließlich die Betrachteraufmerksamkeit mit komplex gestalteten Bilderzählungen zu bannen.

9 zeigt die untergegangene Schönheit Berliner Brandmauern, die inspirierende graphische Ordnung marokkanischer Wahlwerbung, die traumbildhafte Poesie apulischer Scheintüren, den Maßstäbe setzenden griechischen Beitrag zur konkreten Plastik (eat that documenta!), die Internationalität der Playa del Inglés als durchdachtes Entsorgungskonzept, ebenso wie die tiefe Traurigkeit spanischer Baumschändungen. Kurzum, hier gilt es die ganz großen Erzählungen in sorgsam abgezählten, kleinformatigen Bildern nachzuverfolgen.

Zu den amüsantesten Geschichten gehört zweifelsohne der Photoblock zur Stadt London. Es geht um die längst überfällige Feststellung, das Reiterdenkmäler dafür zu tadeln sind, dass sie Pferde von hinten zeigen. Und da dies in der Tat kein erbaulicher Anblick ist, existieren auch nur 5 statt 9 photographische Belege solchen Missstandes.

Dabei werden hier einmal mehr die engen kulturellen Verbindungen der abtrünnigen Briten mit dem so wenig geliebten Kontinent deutlich: 1979 präsentierte Daniel Spoerri in seinem Le Musée sentimentale de Cologne an zentraler Stelle einen riesigen in Bronze gefassten Pferdehintern und daneben den Kopf von Wilhelm III. Dies ist, was vom kriegszerstörten Reiterstandbild des Preußenherrschers letztlich in der Stadt verblieb und nicht in „Eifel und Westerwald eingeschmolzen“, als „Eier, Käse und Butter nach Köln“ zurückkehrte.*

Königskopf an Pferdepobacken – auch das ist schließlich eine auserzählte preußische Geschichte und ein zukunftsträchtiger Tipp für London.

Aber es sind schließlich auch die vielen Einzelbilder, denen nachzuspüren lohnt: Wie etwa das einer geschlossen sich präsentierenden Mauer in Barcelona, der von einem Vespaspiegel ein ebenfalls geschlossenes Dreibogenfenster einem Orden gleich verliehen wird. Zurück bleibt eine streng graphische Zeichnung vor malerischem Hintergrund mit traumhaftem Sujet.

9 das ist eine Reise für sich. Es ist eine konstruktive Anregung, den Blick zu rejustieren und ernster zu nehmen, was da so alles auch ins eigene Auge fällt. 9 das ist ein Buch und das ist eine Ausstellung. In Berlin wird daraus eine Installation, in der ein Raum als ein nach außen gestülpter Globus auftritt, auf dessen Längengraden sich die Erzählungen verorten. 9 das ist nichts weniger als die Welt im Maßstab von 9 auf 11m2.

Rafael von Uslar

9, 11qm, juni 2017, vernissage multi

* Daniel Spoerri: Le Musée sentimental de Cologne, hrsg. Marie-Louise Plessen, Daniel Spoerri, Wulf Herzogenrath, Köln, 1979, S.149

 

Troy – Anthony Baylis – we’re justified and we’re ancient

Troy – Anthony Baylis – we´re justified and we´re ancient

18.Mai – 11.Juni 2016                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                 scroll down for English version
^3E78C8C57C30DD48E2F722A8CB53F4018E9E294E9C50D110B2^pimgpsh_fullsize_distrFoto: Boris von Brauchitsch

Troy-Anthony Baylis ist ein indigener australischer Künstler, der strickt. Er ist darüber hinaus als Kurator, Autor und Kulturtheoretiker tätig.

Seine künstlerischen Arbeiten basieren in zunehmendem Maße auf kulturhistorischen Recherchen. Er verbindet Traditionen seiner Kultur, der Jawoyn in Australiens Northern Territory, mit Aspekten zeitgenössischer Kunst, Populärkultur und Queer-Theorie. Seine Auseinandersetzungen mit anderen zeitgenössischen Künstlern gestaltet er als kreative Dialoge. Dabei überzeugt vor allem die illustre Mischung seiner Gesprächspartner, wie etwa Rosemarie Trockel, Andy Warhol, Cary S. Leibowitz und Barbara Cartland!

In seiner Ausstellung we’re justified and we’re ancient zeigt Baylis mit Hey Ya! (2013) und Hey Ya!/Ay-O (2016) zwei im Wortsinne wahrhaft raumgreifende Skulpturen, welche die Form von  Mimi spirits nachahmen, um sie im „Mu Mu Land“ der 11m2 im freien Spiel lebendig werden lassen.1 Kräftig in ihrer Farbigkeit, stark gemustert sind sie doch weich und nachgiebig in ihrer Materialität, denn sie bestehen aus Wolle und wurden von Hand gestrickt. Ihre Körperhaftigkeit und spielerische Präsenz verleihen ihnen eine große Lebendigkeit. Dabei verbleiben sie in ihrer Darstellung ohne Abbildhaftigkeit, sie sind weder ein Tier noch ein Pflanze.2 In leuchtenden Farben entwickeln sich Musterstrukturen in die Höhe, die bei engem Strick dem Äußeren der Skulpturen eine an Reptilienhaut erinnernde Oberfläche verleihen. Die Muster erscheinen als in Schwingungen versetzte Bewegungen, seismographischen Aufzeichnungen nicht unähnlich und sind in ihrem Verlauf von einer fast filmischen Vorwärtsbewegung geprägt. Der Strick verleiht dem ganzen dabei eine an Pixel erinnernde Feinrasterung. In den Mustern dieser Erzählung gibt es immer wieder unerwartete Brüche und Wechsel mit unterschiedlich deutlich hervorgehobenen Schnittstellen. Solche Brüche können in verschiedensten Kulturen sehr Unterschiedliches bezeichnen. In den Raffia-Stickereien der zu den Kuba gehörigen Shoowa im Kongo etwa dokumentieren oft sehr abrupte Unterbrechungen im Muster Ortswechsel der stickenden Person.3 Sie werden aber ebenso in Verbindung gebracht mit Offbeat Phrasierungen in der afrikanischen Musik.4 Bei den Nordamerikanischen Pomo Indianern fungieren Abweichungen in den Ornamenten von Korbgeflechten als Ein-und Ausgänge der in den Ornamenten lebenden Geister.5 An all dies lässt sich ohne weiteres auch bei Hey-Ya! und Hey Ya!/Ay-O denken. Denn die Mimis sind altehrwürdige Geister und Trickster.6 Vor dem Erscheinen der Aborigines hatten sie Menschengestalt und bemalten Felsen. Nach ihrer Begegnung mit den Aborigines, denen sie so entscheidende Dinge, wie das Kochen und das Malen beigebracht haben, verwandelten sie sich in lange dünne Wesen. Sollte dies nun exotisch erscheinen, so sei daran erinnert, dass Flexibilität in der Erscheinungsform nicht nur Mimis vorbehalten ist, sondern schließlich auch in der westlichen Kultur eine große Rolle spielt: Von einer sich in einen Lorbeerbaum verwandelnden Dame, bis hin zu sprachbegabtem brennenden Unterholz und sich als liebenswerte Haustiere gebarende Höllengestalten.7 Im Zweifelsfall regeln Pharmazeutika Größenverhältnisse und Wahrnehmungsfragen: „go ask Alice!“

Foto: Boris von Brauchitsch

Ein komplexer Dialog zwischen Charles Strouse, Martin Charnin und Patti Smith sowie zwischen Troy Anthony Baylis und Cary S. Leibowitz bildet die Grundlage für Baylis zweite Installation Tomorrow.8 Leibowitz mit Text gestalteten Strickmützen wurden von Baylis mit traditionellen Dillybags der Aborigines gekreuzt um daraus hochgeschossene Wollskulpturen zu entwickeln, die sogar noch mehr Raum für Text bieten als die von Leibowitz gewählten Ski-Bommelmützen. Nachdem Baylis in Berlin einer auf „repeat“ eingestellten Coverversion des Liedes Tomorrow aus dem Musical Annie, interpretiert von Patti Smith, zu lange ausgesetzt war, kehrte er tief-traumatisiert nach Adelaide zurück, um den gesamten Liedtext auf Mützen zu stricken. Diese haben seitdem unterschiedliche Installationsformen erfahren. Die gesamte Arbeit war 2009 als ein an Richard Longs Steinkreise erinnernde Bodenskulptur in der Ausstellung Resonance, in Adelaide zu sehen und als eine, Elemente einer musikalischen Partitur aufnehmende Wandskulptur bei MyBerlinWall.

Troy Tomorrow Claus OriginalFoto: Claus Rottenbacher, Berlin      Ausstellungsansicht Troy-Anthony Baylis – Tomorrow / MyBerlinWall

Einzelne Elemente der Skulptur hat Baylis an geographisch höchst unterschiedlichen Orten in freier Natur photographiert und diese Bilder in einer ganzen Reihe von Ausstellungen gezeigt. In den 11m2 bewegt sich Tomorrow im lockeren Wechsel zwischen Wand und Raum. Dies erlaubt dem Betrachter der Skulptur unter ihren Mützensaum zu schauen und sich dabei gewissermaßen behütet zu fühlen. Die Skulptur ergeht sich in einem grau in grau. Ihre Installation jedoch fordert dazu heraus das Kinn zu heben, zu lächeln und zu lesen: „The sun will come out tomorrow. So you gotta hang on ´til tomorrow, come what may!“ Und da Bildbetrachtungen bekanntlich Zeit erfordern, stellt sich in der Betrachtung in etwa dass ein, was den Ausgangspunkt dieser Arbeit bildete: Tomorrow auf „repeat“!

 

^40D2F6C358D33F2D614D44E16DAD5CF0771EDA4353F852DB99^pimgpsh_fullsize_distrFoto: Boris von Brauchitsch

Die Ausstellung we’re justified and we’re ancient wird ergänzt durch die Installation

First Queer and The Early Sunsets bei MyBerlinWall. link

Zur Ausstellung sind zwei Editionen erschienen.

^D7AECA5F105B04B72F266DD37517C591A7BA7C81F675D1B327^pimgpsh_fullsize_distr

Rafael von Uslar

1 The KLF: Justified and Ancient (Stand by the Jams), 1991; Andrè 3000 für Outkast: Hey Ya!, 2003; Ay-O, der selbsterklärte „Rainbowman“, ist ein japanischer Fluxus-Künstler.

2 Am an animal and a plant ist Text und Titel einer Skulptur von Baylis aus dem Jahr 2008.

3 Diesen Hinweis verdanke ich Klaus Herford.

4 Robert Farris Thompson, African Art in Motion, Los Angeles, 1974, S. 10-13.

5 Claude Lévi-Strauss: Sehen, Hören, Lesen, Frankfurt am Main, 2004, S. 157.

6 Meine Information zu den Mimis verdanke ich der Website des Australian Museum und dem Katalog zu BOO! Aboriginal Ghost Stories And Other Scary Matter, kuratiert von Troy-Anthony Baylis, Tandanya, 2016 Adelaide Festival of Arts.

7 Zu den Dämonen siehe: Stefan Lochner: Weltgericht, Köln, 1435.

8 Tomorrow stammt aus dem Musical Annie: Charles Strouse (Musik), Martin Charnin (Liedtexte), Thomas Meehan (Buch), 1977. Die Coverversion von Patti Smith ist veröffentlicht auf Land (1975-2002), 2002.

 

 

Fotos: Geo Reisinger, Berlin        /Ausstellungsansicht Troy-Anthony Baylis – First Queer and The Early Sunsets/MyBerlinWall

 

 

————————————————————————–

Troy – Anthony Baylis – we´re justified and we´re ancient

18.May – 11.June 2016

^CE429B086BFD8AFAD4F3BB9BE504744E20F9C25ED37154BE56^pimgpsh_fullsize_distrFoto: Boris von Brauchitsch

Troy-Anthony Baylis is an indigenous Australian artist who knits. Furthermore he works as a curator, author and cultural theorist. Increasingly his art-works are based on historically grounded cultural research. He connects traditions of his Jawoyn culture from Australia’s Northern Territory with aspect of contemporary art, popular art and queer-culture. The implementation of his engagement with the positions of other contemporary artist’s takes the form of a creative dialogue. The illustrious mixture of his dialogue partners though is particularly interesting. To name just a few: Rosemarie Trockel, Andy Warhol, Cary S. Leibowitz AND Barbara Cartland!

In his exhibition we’re justified and we’re ancient Baylis shows Hey-Ya! and Hey-Ya!/Ay-O, two truly space-consuming sculptures that channel traditional Mimi spirits, allowing them to come alive and play in the „Mu Mu Land“ of 11m2.1 Made from wool and hand-knitted they are vigorous in their colourfulness and strongly patterned, nevertheless they are soft and compliant in their materiality. Their bodily appearance and playful presence lends them great liveliness. Still their depiction remains without eminent likeness. Their pattern structures evolve in an upward movement and they seem neither an animal nor a plant.2 Tight knitting lends the external side of the sculptures a surface reminiscent of reptile skin. These patterns appear to be derived from oscillatory movements, not unlike seismographic recordings and appear to unfold in a film-like forward movement while the knitting overwrites it all with a pixelated raster..

The patterns of this narrative continue to show unexpected faceting. Such fractious, abrupt changes in patternation can signify various things in different cultures: In the Raffia stitching of the Shoowa (who are part of the Kuba culture in Kongo) abrupt changes in pattern document a change of location of the person stitching.3 They have also been connected to offbeat phrasing in African music.4 The North-American Pomo Indians introduce interruptions into the ornaments of their basket weaving as gateways to be used by the spirits who actually reside in these ornaments.5 All this can also be imagined in the context of Hey-Ya and Hey-Ya!/Ay-O! After all the Mimis are venerable spirits and tricksters. Justified AND ancient they had human form and painted rocks before the Aborigines appeared.6 After their arrival the Mimi changed into thin, elongated beings and taught the Aborigines such essential matters such as cooking and painting. Now if any of this should appear exotic it should be remembered that a fluidity in appearances also plays an essential role in Western mythology: From the transformation of a lady into a laurel tree to linguistically gifted underwood on fire and creatures from hell posing as cute pets.7 In case of doubt, “go ask Alice!“

A complex dialogue between Charles Strouse, Martin Charnin and Patti Smith as well as between Troy Anthony Baylis and Cary S. Leibowitz forms the basis of Troy-Anthony Baylis second installation Tomorrow 8.  Baylis interbreeds Leibowitz’s knitted hats that feature text with traditional Aboriginal dillybags into tall wool-sculptures that offer even more room for text than Leibowitz’s chosen ski- bobble caps. While in Berlin, Troy-Anthony Baylis got exposed to a cover version of the song Tomorrow from the musical Annie, interpreted by Patti Smith set on “repeat” for just too long. Deeply traumatized he returned to Adelaide only to knit the entire lyrics of this song on dilly-hats gone sculpture. These have since then been installed in many different ways. The entire work has been on show as a floor sculpture reminiscent of Richard Long’s stone circles. It became a wall work picking up on the formal aspects of a musical score at MyBerlinWall 9. Single segments of the work have been installed and photographed by Baylis at geographically quite diverse locations. These photographs have since then been presented in various exhibitions. At 11m2 Tomorrow shifts in loose fluctuation between wall and space. This allows the viewer to actually peep underneath the sculpture’s hat’s brim and feeling somehow be- hat -ed.

^6740AE17C60795C0A86E6BD5EA245364868F5E9F63B4C78993^pimgpsh_fullsize_distrFoto: Boris von Brauchitsch

While the sculpture refrains in grey on grey, its installation reprises with a stick up of the chin, a grin, only to exclaim: „The sun will come out tomorrow. So you gotta hang on ´til tomorrow, come what may!“ And as generally known the reception of art requires time. Thus the viewing of this installation reinstalls something that defined the very point of departure for this work: Tomorrow on “repeat”!

The exhibition we’re justified and we’re ancient will be supplemented by the installation First Queer And The Early Sunsets at MyBerlinWall.

Rafael von Uslar

1 The KLF: Justified and Ancient (Stand by the Jams), 1991; Andrè 3000 for Outkast: Hey Ya!, 2003; Ay-O, the self-proclaimed „Rainbowman“, is a Japanese Fluxus-artist.

2 Am an animal and a plant is text und title of a sculpture by Troy-Anthony Baylis from the year 2008.

3 I thank Klaus Herford for this information.

4 Robert Farris Thompson, African Art in Motion, Los Angeles, 1974, p. 10-13.

5 Claude Lévi-Strauss: Look, Listen, Read, New York, 1997, p. 170.

6 I owe my information on Mimi spirits to the web site of the Australian Museum and the catalogue for BOO! Aboriginal Ghost Stories And Other Scary Matter, curated by Troy-Anthony Baylis, Tandanya, Adelaide Festival Of Arts 2016.

7 In regard to cute demons see: Stefan Lochner: Weltgericht, Köln, 1435.

8 Tomorrow originates from the Musical Annie: Charles Strouse (music), Martin Charnin (song-lyrics), Thomas Meehan(book), 1977. The cover-version of Patti Smith was published on Land (1975-2002), 2002.

9 MyBerlinWall features works and installations of contemporary artists in a private context.

Lars Reimers / Mickaël Marchand – Alles muss man selber machen lassen

Alles muss man selber machen lassen
Lars Reimers / Mickaël Marchand

18.11.2015 – 09.12.2015

Eröffnung: 18.11.2015 um 19.00 Uhr

Photos: Lars Reimers/ Mickaël Marchand

 

einladungRückLarsMickael Kopieklein

Im öffentlichen Straßenraum abgestellter Hausrat und Möbel: Das ist entweder Bestandteil einer regelkonformen Entsorgung von Sperrmüll oder eine illegale Vermüllung städtischer Umwelt und damit eine Ordnungswidrigkeit.

Dass eine solche Einschätzung durchaus zu kurz greifen kann, das beweisen Lars Reimers und Mickaël Marchand mit ihrer Ausstellung Alles muss man selber machen lassen bei 11m2. Beide Künstler beschäftigen sich, vollkommen unabhängig voneinander in beeindruckenden Langzeitprojekten, mit im Straßenraum vorgefundenen, abgelegten Gegenständen. Ihr Umgang mit dem Ort und dem ihnen dort begegnenden Material jedoch, ist höchst unterschiedlich.

Lars Reimers macht seit 2008 Aufnahmen von Dingen, die auf der Straße zu sperrigem Müll werden. Es sind Schnappschüsse im Vorüber-Gehen aufgenommen, mit der Kamerafunktion eines Mobiltelefons.
Das Abstellen und Wegwerfen von Gegenständen ist gemeinhin kein bewusst vorgenommener gestalterischer Akt. Reimers Blick jedoch analysiert die Strategien und Ästhetik dieser unbedachten, beiläufigen Handlungen und zeigt sie als komplexe formale Inszenierungen. Hierbei halten sich ironische Beobachtungsgabe und kunsthistorische Wohlinformiertheit in einer spannenden Balance. Kaum eines dieser banalen, höchst alltäglichen Arrangements, das nicht vertraute künstlerische Positionen der Gegenwart, als spontane Assoziationen evoziert. Über die Jahre eines kontinuierlichen Arbeitsprozesses, ist so ein beeindruckender Fundus entstanden von scheinbar lapidaren Bildern, ein eigenwilliger Straßenatlas der großen Inszenierung unbedeutender Dinge. Bilder voller Poesie und erstaunlicher erzählerischer Komplexität.

Mickaël Marchand begegnet dem vorgefundenen Material mit entschiedenen Interventionen in den Straßenraum. Er re-arrangiert das abgestellte Straßengut unter höchst kreativer Berücksichtigung der architektonischen Gegebenheiten des jeweiligen Ortes. Er schafft fragile und oftmals höchst waghalsige Konstruktionen, welche die Grenzen dessen, was Materialbeschaffenheiten und Schwerkraft zulassen, bis zum äußersten strapazieren. Die so geschaffenen Stilleben werden zum Bildgegenstand von Photographien – danach wird aufgeräumt. Die Bilder jedoch sammeln sich an, zu einer Untersuchung zum ästhetisch Möglichen des zufällig Vorgefundenem, im öffentlichen Raum. Bald lassen die Bilder eine gewisse Handschrift erkennen: Ähnliche Entscheidungen und Handgriffe, die einer Vielzahl der Inszenierungen zugrunde liegen. Es wird deutlich, dass es hier um das Gestalten von Ordnungen geht, die sich in der Folge, in ihrer eigenen Logik, gegenseitig kontinuierlich bestätigen. Unterhaltsamer Möbelslapstick und eine Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen, bedingen einander und schulen den Betrachterblick.

In ihrer Ausstellung Alles muss man selber machen lassen in den 11m2, präsentieren die Künstler einen Archivraum mit über 1.000 Photographien! Wir freuen uns sehr, Ihnen einmal mehr ein überraschendes Raumerlebnis versprechen zu können.

Rafael von Uslar

Susanne Rottenbacher – The Looking Glass Room`s Exploding Inevitable

Susanne Rottenbacher
The Looking Glass Room`s Exploding Inevitable

16.09. – 31.10.2015
Eröffnung 16.09.2015, 18 – 20 Uhr

 

1966 setzte Andy Warhol bei seinem Exploding Plastic Inevitable zur Betrachterüberwältigung auf ein Spektakel aus verzerrtem Gitarrengetöse, stroboskopischem Licht, Tanz und Dia-Projektionen. 2015 bietet Susanne Rottenbacher für ihr Exploding Light Inevitable in den 11m2 Lichtskulpturen, Spiegel und – Stille.
Eine Überwältigung gelingt trotzdem.

Betritt man den großzügig angelegten Ausstellungsraum, so wird man umfangen von Licht. Streifenbemalte Kunststoffkorpi durchzogen von Lichtröhren vollführen Achterbahnfahrten, die das Auge in ihren kühnen Verlauf mitreißen. Lichtstränge kreisen und peitschen durch den Raum. An dessen Wänden findet in Spiegelstreifen das Spektakel sein Echo. Dieses wird nicht nur sofort in den Raum zurück gejagt, sondern bildet zugleich einen Lichtsog in die Tiefe der Wände und scheint die Begrenzungen des Raumes zu sprengen.

Fotos: Claus Rottenbacher

In den Spiegeln jedoch macht das Licht längst keinen Halt…
Bevor sich Alice* entscheidet, durch den Spiegel zu treten, hat sie sich mit der Ansicht des Spiegelglasraumes bereits eingehend vertraut gemacht. Als sie ihn schließlich betritt, ist sie begeistert zu entdecken, dass all das, was von der anderen Seite in diesem Raum nicht zu sehen war, sooo viel interessanter als das bereits zuvor Sichtbare ist.
The Looking Glass Room’s Exploding Light Inevitable ist eine Einladung, sich von einer eben solchen Entdeckung zu überzeugen!

 

Rafael von Uslar

 

*Lewis Carroll: Alice Through the Looking –Glass & What Alice Found There, 1871.

susanneEmailsusanneRückEmail